Julies Welt
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Julies Welt

Sie ließ sich auf den Küchenstuhl plumpsen. Adam hatte heute seinen ersten Arbeitstag in der Bank. Er war im leitenden Management von London über Rom nun nach München versetzt worden. Ihr Sohn Peter war zehn Jahre alt und schon in Rom auf der internationalen Schule gewesen. Wenigstens dieser Wechsel war kein größeres Problem gewesen, die Anmeldung online ganz unkompliziert, den Rest hatte der Relocater vor Ort übernommen. Sadie, ihre Tochter, war fünfeinhalb Jahre alt und hatte einen Kindergartenplatz im Viertel bekommen.

„Halbtags“ dachte sie, und seufzte. In Italien war die Ganztagesbetreuung nie ein Problem gewesen. Sie war wie vor den Kopf gestoßen, als sie heute morgen erfuhr, dass sie das Kind nicht nur in der ersten Zeit mittags abholen müsse. Aber immerhin: Sadie war neugierig und mutig allein hinein gelaufen. Ein Wunder, verstand sie doch kein Wort Deutsch – oder wie hieß doch gleich der Dialekt? Bayerisch!

Montag nächster Woche ging der Deutschkurs los. Ein Lichtblick – andere Leute in ähnlicher Situation – das war in Rom schon schön gewesen. Sie lächelte und schwang sich auf. Sie musste einkaufen.

Mit dem Auto zum ersten Mal in einer unbekannten Millionenstadt rumzukurven – sie machte sich auf etwas gefasst. In Rom hatte es Monate gedauert, bis sie in der Lage war, mehr oder weniger auf Anhieb zum Ziel zu kommen – und jede Baustelle hebelte das fragile System aus. Im Stadtplan hatte sie wohlweislich die nähere Umgebung studiert, sie hatte vor, den Supermarkt sozusagen einzukreisen. Sie seufzte. „To the Supermarket?“ Diese Frage hätten vielleicht die Passanten noch verstanden, allein – sie die deutsche Antwort nicht...

Wie hießen denn eigentlich die deutschen Supermarktketten?

Als sie endlich von der Strasse aus die supermarkttypischen Einkaufswägen entdeckte, bog sie in den Parkplatz ein. Schritt eins: geschafft. Im Supermarkt lief sie langsam die Regale entlang. Jede Nudelpackung musste sie in die Hand nehmen und die Inhaltsstoffe prüfen: Sadies Allergie. Wie hieß Weizen doch gleich auf Deutsch? Warum hatte sie nur nicht daran gedacht, das Wörterbuch einzupacken – es lag vermutlich mutterseelenallein auf dem Küchentisch. Nach fünfzehn Minuten Nudelregal und dem Blick auf die Uhr, sattelte sie für heute auf Kartoffeln um. Morgen würde sie, mit Wörterbuch gerüstet versteht sich, einen neuen Nudelanlauf starten.

Im Gemüseabteil suchte sie lange nach den gewohnten Plastikhandschuhen und die automatische Waage, beobachtete unsicher andere Kunden die handschuhlos ungeniert die Waren ungewogen in den Wagen packten – und beschloss – es dem nachzutun. Und abzuwarten, was passieren würde.

Beim rückwärts Ausparken fuhr ein Lieferwagen ihr Rücklicht kaputt und der schuldige Fahrer winkte sie zu sich. Sie zuckte mit den Achseln. Wird schon nicht die Welt kosten, ehrlich gesagt, war das im Moment ein Nebenkriegsschauplatz für sie. Hatte der Relocater das Auto denn schon umgemeldet? Sie hatte im ganzen Umzugs-Tumult gar nicht daran gedacht, nachzufragen. Sie hatte keine Ahnung von der Abwicklung eins solchen Vorfalles hier in Deutschland und sah sich, vor allem mit Blick auf die Uhr, nicht in der Lage, die Situation so spontan zu lösen. Also winkte sie einfach ab. Lass gut sein, signalisierte sie wortlos dem verdutzten Fahrer, der ihr fassungslos nachsah. Sie musste Sadie schon bald abholen – na ja, aller Anfang war schwer.

Sadie schien Gott-sei-Dank ganz fröhlich, vor allem angesichts der Tatsache, dauerhaft die Nachmittage mit Mama verbringen zu dürfen. Ein kleiner Trost dafür, dass sie in Rom ihre beste Freundin Arianna im Appartement gegenüber hatte verlassen müssen. Aber mit der unternehmungslustigen Sadie daheim war natürlich ans Auspacken weiterer Umzugskisten nicht zu denken.

Nach dem Mittagessen zogen beide los, um mit dem Rad die nähere Umgebung zu erkunden. Ein Spielplatz war Gott sei Dank schnell gefunden. Sie setzte sich auf eine Bank und sah Sadie zu, wie sie die neue Umgebung für sich eroberte.

Nach ein paar Minuten jedoch stand Sadie schon wieder vor ihr: „Mama spielst Du mit mir?“ Sie stand auf. „Nur Geduld“ ermunterte sie sich. „Bald hat sie wieder Freunde und einen Chor und Kunstturnen und die Mittage werden vergehen wie im Flug“. A propos: Chor und Kunstturnen, sie musste im Internet noch recherchieren wo und wann – wenn denn endlich das Telefon installiert wäre. Nächste Woche erst, soweit sie wusste – hatte der Relocater freudig angekündigt. Erst nächste Woche – oh je.

Um fünf Uhr sollte Peter aus der Schule kommen. Er kam mit einer langen Liste von Dingen, die noch zu besorgen wären: Hefte, Bücher... Nur wo? Mit der quirligen Sadie im Schlepptau, dem mürrischen Peter voran, gingen sie gemeinsam los. Auf gut Glück – in der Hoffnung einen entsprechenden Laden zu entdecken. Konnte man Schulbücher eigentlich, wie in Italien, im Schreibwarenladen bestellen? Stellte diese nicht die Schule, wie das in London der Fall gewesen war? Endlich ein Schreibwarenladen – whow wie edel sahen die in Deutschland aus. In Leinen gebundenen Hefte... „Das muss die berühmte deutsche Qualität sein“, dachte sie respektvoll (und schockiert, als sie für die fünf Hefte 25 Euro zahlen sollte…) Erst viel später entdeckte sie die Schulhefte in der Drogerie.

Eigentlich hätte sie gleich mal nach den Schulbüchern fragen können. Sie genierte sich jedoch, auf Deutsch zu fragen.

„Ich brauche Internet“ dachte sie verzweifelt, „jetzt sofort und nicht nächste Woche. Dann könnte ich schnell recherchieren und alles bestellen, direkt zu mir nach Haus“!

„Und wie war Euer Tag?“ fragte Adam am Abend erschöpft. Er hatte viele neue Kollegen kennen gelernt, viele Gesichter und Namen, Räumlichkeiten, erste Aufgaben und die Sekretärin, war hochkonzentriert in der neuen Sprache, den neuen Abläufe, der neuen Kantine, dem fremden Essen, der ungewohnten Etikette. Und auch er hatte sich auf dem Heimweg in München zunächst verfahren und war mühsam im Stopp and Go von der Stadtautobahn wieder in die richtige Richtung gelangt.

Peter zuckte nur mit den Schultern. Er sprach nicht viel. Schon aus Rom war er das Kommen und Gehen von Kameraden gewohnt – nun hatte es ihn erwischt. Er riss sich zusammen. Sadie blickte den Vater böse an – sie war immer noch sauer, dass sie Arianna nicht mehr sehen konnte, das sollte er ruhig wissen. Und schon ging’s los: „Wann fahren wir wieder nach Italien, ich will nach Hause, hier ist es zu kalt, Arianna hat mich bestimmt schon vergessen, mir gefällt’s hier nicht, alles ist blöd und der Spielplatz ist blöd und der Kindergarten ist auch blöd“. So ging die Litanei weiter und weiter, bis die Nerven aller Familienmitglieder blank lagen und Sadie schmollend auf ihr Zimmer geschickt wurde.

Zwischen ihr und Adam trat Schweigen ein. Sie waren zusammen hergekommen – aber den Alltag musste nun jeder für sich meistern. Das kaputte Rücklicht hatte sie schon ganz vergessen.

Und als nach einer Woche der Telefonanschluss endlich verlegt war – und sie voller Vorfreude beim Gedanken an den Luxus eines funktionierenden Internets den Computer hochfahren wollte – bemerkte sie mit Entsetzen, dass Sie ohne Adapter für den Netzstecker nicht weit kommen würde. Verflixt. Das war aber auch wirklich ein richtiger Anfängerfehler, schalt sie sich. Und dabei hatte sie sich schon so gefreut. Wo bekommt man so ein Teil eigentlich? Auch im Supermarkt?

Nach 7 Monaten fing sie an, zu überlegen, ob es sich noch lohne, die letzten Umzugskisten auszuräumen, denn bald sollte ihr Mann ja nach Brüssel...

Und bei dem Gedanken wollte sie nur noch heim zu ihrer Mama, um sich die ganze Anstrengung von der Seele zu weinen. Oder wenigsten zu ihrer besten Freundin. Oder einen Multi-Adapter. Und zwar sofort.